Regarde ta rolexEin Blogbeitrag unseres stellv. Landesvorsitzenden Konstantin:

Vom französischen Expräsidenten Jacques Chirac – nun wirklich kein Linker – ist folgender Ausspruch überliefert: „Der Liberalismus wäre genauso vernichtend wie der Kommunismus und würde mindestens ebenso viele Opfer fordern.“ Diese Aussage stellt essentiell die traditionelle französische Wirtschaftspolitik dar: der Staat macht möglichst viel, besitzt die Großunternehmen, Liberale – im französischen Sprachgebrauch neoliberal, während Linksliberale akzeptiert sind und unter dem Namen Radikale eine lange Tradition haben – sind die Schmuddelkinder. Eine Meinung, die die an den Elitenuniversitäten herangezüchteten Politikkader mit der Mehrheit der Franzosen lange Zeit verbunden hat.

Auch heute lehnen 71% den Loi travail der sozialistischen Regierung ab, der durch eine Deregulierungspolitik nach deutschen Vorbild die lahmende Wirtschaft in Schwung bringen soll. Diese Riesenreform soll ab Januar 2017 greifen und verspricht „mehr Arbeitsplätze, mehr Freiheiten und mehr Schutz“ auf einmal. Soweit ja erstmal alles perfetto, denkt man sich und klickt sich ein bisschen weiter durch das Internetportal der Regierung. Tatsächlich merkt man jedoch relativ schnell, dass „mehr Freiheiten und mehr Schutz“ sich nicht die arbeitende Bevölkerung zu beziehen scheinen, sondern auf die Arbeitgeberseite: so wurde etwa der Kündigungsschutz aufgeweicht und die 35-Stundenwoche teilweise aufgehoben. Dazu wird die Rolle der Gewerkschaften eingeschränkt, die nun mindestens 50% der Beschäftigten eines Betriebes hinter sich haben müssen, um als repräsentativ zu gelten. Die Rolle der Arbeitnehmerschaft wird also empfindlich geschwächt – und das perverse: das Gesetz wurde am 21.7. ohne Parlamentsabstimmung durchgewunken. Mit dem Artikel 49 der Verfassung der fünften Französischen Republik ist es nämlich möglich, als Regierung ein Gesetz ohne Abstimmung als Kabinettsbeschluss durchzusetzen. Das Kabinett Valls wählte diesen Weg, da absehbar war, dass sie in dieser Frage auf ihre eigene, sonst recht komfortable Mehrheit nicht bauen würden können. Mein Freund Raphaël sagte mir dazu nur: „Das ist wie eine Diktatur.“
Man kann die 71% der Franzosen also sehr gut verstehen, wenn sie gegen dieses Gesetz sind. Und auch, dass sich diese Ablehnung in den Umfragen der Regierung wiederspiegelt: Präsident Hollande wird nur von 18 Prozent der Befragten für gut befunden und ist damit der einzige mögliche Kandidat einer der großen Parteien, der eine Stichwahl gegen Marine Le Pen verlieren würde. Besser gelitten hat es da schon Manuel Valls, Premierminister und Leitfigur des rechten PS-Flügels, der nicht nur inhaltliche Neuorientierung, sondern auch die Umbenennung der Partei fordert – er kommt auf 33% Zustimmung.

Man sieht: der neoliberale Kurs kommt dem PS nicht zu Gute – nicht sonderlich überraschend, kennen wir von unserer eigenen Partei ja nur zu gut. Jedoch gibt es in der Regierung eine krasse Ausnahme: Emmanuel Macron. 52% der Franzosen denken, dass er einen guten Präsidenten abgeben würde. Dabei ist Macron als Wirtschaftsminister die krasseste Verkörperung dieses neuen Neoliberalismus: „Es ist nicht mein Job, bestehende Arbeitsplätze zu erhalten, sondern neue zu schaffen“ lautet sein Credo. Immer wieder erwähnt er seine Vision Frankreichs als eine Nation der Start-up-Unternehmen. Auch die sakrosankte 35-Stundenwoche hat er bereits bei mehreren Gelegenheiten in Frage gestellt, ohne dass sich das signifikant auf seine Beliebtheit ausgewirkt hätte. Im Gegenteil: sollte sich Sarkozy im bürgerlichen Lager gegen den populären Alain Juppé als Präsidentschaftskandidat durchsetzen, wäre ein kandidierender Macron bereits Präsident.

Man kann sich nun fragen, wie ein Politiker mit unpopulären Ansichten es trotzdem schafft, sehr populär zu sein – wobei wie es überhaupt noch französische Politiker schaffen können, populär zu sein, auch eine Frage sein könnte. Denn Bewegung wie Nuit Debout, aber auch der Vormarsch des FN zeigen deutlich, dass mit dem System der fünften Republik etwas nicht in Ordnung ist. Immer wieder wird den Absolventen der Elitenuniversitäten, welche den Politikbetrieb dominieren – Hollande hat allein drei Abschlüsse von drei unterschiedlichen Grandes écoles –, Abgehobenheit attestiert. Dass gegen Macron diese Vorwürfe nicht erhoben werden, ist jedoch grotesk. Seinen Lebenslauf hätte sich ein Schriftsteller nicht besser ausdenken können: Sohn eines Professors und einer Ärztin, Besuch der Jesuitenschule von Amiens, Baccalauréat am Elitegynasium Henri IV in Paris, danach Studium der Philosophie an der SciencesPo in Paris, wo er sich über Hegel diplomierte, um schließlich an die ENA zu wechseln und Spitzenbeamter zu werden.

Bis dahin ein ganz normaler französischer Politikerlebenslauf. Reines Establishment, das aber im Gegensatz zu diesem beliebt ist – vielleicht, weil er den Bogen noch weiter überspannt? 2008 wechselte er zu einer der größten Privatbanken der Welt, Rothschild & Cie, wo er innerhalb von 2 Jahren zum Partner aufstieg. Erst 2012 führte ihn sein Weg in das politische System Frankreichs, als er Berater des neuen Präsidenten Hollande wurde. 2014 dann das Ministeramt. Mit 36 Jahren. Tatsächlich spiegelt sich der rasante Aufstieg des Emmanuel Macron auch in seiner politischen Bewertung wieder. Als seine hervorstechendste Eigenschaft schätzten die Befragten „Dynamik“ ein – tatsächlich auch das Leitmotiv seines politischen Handels. Seine eigene Bewegung „En marche!“ – also „sich in Gang setzen“ – zeigt dies bereits im Namen. Ihr trotziges Vorwärts! soll nicht weniger als Frankreich umkrempeln und die traditionelle links-rechts-Spaltung überwinden, mit anderen Worten also eine „neue Mitte“ definieren – kennen wir irgendwoher. Jedoch trägt Macron sein Harmonisierungsprojekt ein wenig anders vor – die Medien wollten ihn auf eine „nicht rechts nicht links“-Politik festnageln, dabei sei er doch sowohl „die Rechte als auch die Linke“ – und steigert das deutsche Vorbild damit noch, weil er wirklich Weltgeist spielen will.

Angesichts dieser Hybris sollten die Franzosen lieber auf den anonymen Sprayer hören, der an der S-Bahn-Haltestelle „Anatole France“ in Tours den Satz prägte: „Regarde ta Rolex, c’est l’heure de la révolte! – Schau auf Deine Rolex, die Stunde der Revolte hat geschlagen!“

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