Die Delegation der Jusos Thüringen in den Nahen Osten, bestehend aus Sophia Othmer, Maurice Riesche, Lina-Sophie Horn, Janina Bungarten, Gero Reich, Carolin Lambotte, Lukas Kiehne, Saskia Scheler und Oleg Shevchenko fassten ihre Eindrücke von den gemeinsamen Tagen in diesem Blogbeitrag zusammen.

 

  1. März: Die Odyssee

Ein ganz normaler Sonntag in einer Thüringischen Stadt. Ganz normal? Nein. Eine kleine Gruppe Gleichgesinnter packte am Tag des 26.03.2017 ihre sieben Sachen und machten sich auf, um in ein Abenteuer zu ziehen. Diese Geleichgesinnten sind wir: die Delegation der Jusos Thüringen nach Israel und Palästina.

Die Sonne schien so stark, als die Jusos aus Weimar, Erfurt, Jena, Mühlhausen und Suhl am Erfurter Hauptbahnhof eintrudeln, dass bereits hier die Sonnencreme aus den Koffern gekramt wurde. Die Genoss*innen der Jusos Sachsen trafen wir am Flughafen in Leipzig, wodurch die Delegation mit insgesamt 15 Personen vollständig war und schnell auf den Namen „Reisegruppe Falafel“ getauft wurde. Entgegen unserer Erwartungen gab es bereits an einem deutschen Flughafen eine Komplikation für uns. An der Hose eines Mitreisenden wurden Bestandteile von Sprengstoff gefunden. Nach ausführlicher Kontrolle und Versicherungen darüber, dass es sich bei der Person nicht um den letzten Anarchisten des Spanischen Bürgerkriegs handelt, wurde er doch von den Sicherheitsbeamten begnadigt.

Der Flug nach Istanbul lief problemlos ab und es gab gratis Humus zur allseitigen Freude. Am späten Abend in Istanbul gelandet, stand für uns die erste Sporteinheit des Tages an: Erobert den Check-in. Bei dieser Sportart geht es darum unter immensen Zeitdruck den richtigen Check-in zu erreichen und dabei nicht mehr als zwei Personen zurücklassen zu müssen. Selbst wenn Teile verloren gingen, konnte man glücklicherweise einige Delegationsmitglieder anhand ihres Lachens innerhalb eines KM-Radius orten. Ohne menschliche Verluste und Kollateralschäden meisterten wir die Challenge und konnten erneut Humus im Flugzeug genießen.

Weit nach Mitternacht landeten wir in Tel Aviv. Die Müdigkeit wich mit der Landung der Anspannung, die wir angesichts der Einreise nach Israel hatten. Wir hatten beinahe fest eingeplant, dass mindestens eine*r von uns rausgezogen wird, um genauer befragt zu werden. In unsere Rechnung hatten wir aber nicht den Parameter „Mies-gelaunter-übermüdeter-und-unterbezahlter-Beamter“ mit einkalkuliert. Dementsprechend durften wir ohne Umstände einreisen. Unsere Pässe wurden mit einer 2 gekennzeichnet, was für Touristen in der Sicherheitseinstufung die normale Beurteilung ist. Nur der „Bürgerkriegsveteran“ hat wegen seiner Sprengstoffhose eine 3 bekommen. Am Flughafen wurden wir von Paul abgeholt, der ein freiwilliges soziales Jahr beim Willy-Brandt-Center (kurz: WBC), welches der Partner der Jusos im Nahen Osten ist, leistet und unsere Reise begleitet hat.

Da Israel nicht größer als Hessen ist und zudem nachts auch in Israel wenige Menschen Lust verspüren, sich auf Autobahnen rumzutummeln, hatte es den positiven Nebeneffekt, dass wir in nur 30 Minuten von Tel Aviv nach Jerusalem gereist sind, und um halb fünf dort in unsere Betten fallen konnten.

  1. März: Die Stadt der drei Religionen

27.03. 8 Uhr morgens. Jerusalem. Sonnenschein

Eine vollkommen übermüdete Juso-Reisegruppe aus Deutschland hängt in den Sesseln und Sofas eines Hostels in der Innenstadt. Der Mangel an Schlaf wird sich im Verlaufe des nächsten Tages noch rächen. Doch eins nach dem anderen.

Da waren wir also. Die Juso-Delegation aus Thüringen und Sachsen. Fünfzehn Menschen, nichts ahnend der Eindrücke, die uns in den nächsten Tagen erscheinen sollten. Einer kurzen Einführung in den Wochenplan durch WBC-Mitarbeiterin Judith folgte eine erste neugierige Erkundung der Stadt, die uns an einen Ort mit allerlei wohlduftenden Gewürzen, Früchten, Süßigkeiten und Gebäck brachte, was eine gute Grundlage für das zweite Frühstück darstellte. Die anschließende Bewegung ging Richtung Süden zum Jaffa-Gate der Altstadt, vorbei an hastigen Ultraorthodoxen, Falafelständen und den sehr, sehr jungen Soldaten. Letzteres ein Anblick, der uns öfter begegnen sollte. Wie allgemein bekannt ist die Gesamtheit von Altstadtführungen in aller Welt pyramidenförmig aufgebaut: Es gibt sehr viele uninteressante (unten) und wenige interessante (oben). Wir hatten das Glück die Spitze der Pyramide zu erwischen; unser Guide schaffte es, dreieinhalb Stunden wie dreißig Minuten wirken zu lassen. Wenn man sieht, welche Bedeutung viele Menschen in Straßen, Gebäude und Symbole setzen, die auch von anderen Glaubensgemeinschaften beansprucht werden, so ahnt man, warum die Streitigkeiten zwischen den Religionsanhänger*innen untereinander bis heute andauern. Für unsere Delegation, die mehrheitlich aus nicht sehr gläubigen Menschen bestand, wirkte manch religiöser Streit zunächst befremdlich. Was man in Jerusalem jedoch beobachten und lernen kann: Religiöse Stätten haben für viele Menschen eine enorme Bedeutung, die zu verstehen gerade jungen, sich als links und säkular bezeichnenden Menschen schwerfällt. Aber gerade für Menschen, die z.B. aufgrund politscher Konflikte jahre- oder jahrzehntelang in der Ausübung ihres Glaubens behindert wurden, erlangen diese Stätten eine ganz eigene Bedeutung: Sie sind verknüpft mit dem Versprechen, nach den Glaubensregeln leben zu können, die man selbst für richtig hält, ohne sich von anderen (Religionen) dies verwehren zu lassen. Auch wenn wir teilweise nicht nachvollziehen konnten, warum ein Stein, eine Mauer oder ein Felsvorsprung eine derartige Bedeutung haben kann und Konflikte auslöst, ist es wichtig, diese religiösen Deutungen ernst zu nehmen. In Jerusalem haben wir gesehen: Ein Pulverfass kann hochgehen, wenn jemand eine Leiter verschiebt.

Doch nun sollte sich der Schlafmangel rächen: Denn als im Anschluss an die Tour ein Gespräch mit Gewerkschaftsaktivist*innen von dem Gewerkschaftsbund Koach La Ovdim (Kraft den Arbeitern) anstand, fiel es der Delegation sichtlich schwer, all die Fragen, die uns rund um die israelische Gewerkschaftsstruktur und die Arbeitsbedingungen in Israel auf den Nägeln brannten, präzise zu stellen. Dennoch: Die Gewerkschafterin von Koach La Ovdim stand unseren Fragen Rede und Antwort. Sie berichtete von gemeinsamen Arbeitskämpfen israelischer und palästinensischer Busfahrer*innen, von Streiks im Erziehungswesen und die schwierigen Bedingungen, um solidarische Arbeitskämpfe zu organisieren, wenn die Beschäftigten aus sehr unterschiedlichen religiösen Gruppen stammen. Auch die Einblicke in die sozialökonomischen Bedingungen Israels waren aufschlussreich: Auch hier gibt es Kämpfe um die Erhöhung des Mindestlohns in Israel. Dieser wurde zwar 2015 auf 4.650 NIS (ca. 1.091 Euro) erhöht, ist jedoch bei den hohen Lebensunterhaltungsosten in Israel, die wir bereits nach unserem Besuch auf dem Markt am eigenen Leib erfahren hatten, ziemlich gering. Viele Arbeitnehmer*innen sehen sich deshalb gezwungen, mehrere Jobs anzunehmen, um durchzukommen. Außerdem wurde das Agieren der größten Gewerkschaftsbundes Histadrut kritisiert, die undemokratisch in ihren Strukturen sei und für die Interessen der palästinensischen Arbeitnehmer*innen nicht einstehen möchte. Die Gewerkschaft Koach organisiert hingegen säkulare und orthodoxe Israelis, Palästinenser*innen, arabische Israelis und diverse weitere Gruppen und wächst kontinuierlich. Wir fanden heraus, dass sich Konzentration und Müdigkeit nicht sonderlich vertragen. Eine kurze Pause war hier wohltuend. Im Anschluss verbrachten wir den Abend mit den Vorzügen der lokalen Küche und interessanten Gesprächen mit Aktivist*innen aus dem politischen Team des WBC, die aus unseren Partnerorganisationen stammten, also von Young Meretz, Young Avoda und der Schabibet Fatah.

Und so fiel die Delegation an diesem Abend in einen tiefen Schlaf. Was jedoch nach dem Aufwachen am nächsten Tag geschah ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

 

  1. März: Yad Vashem

Unser nächstes Ziel war Yad Vashem, die nationale Shoah-Gedenkstätte Israels. Übersetzt bedeutet dies so viel wie „Ewiger Name“, der dem Gebäude gegeben wird, damit der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät.

Für Israel als jüdischen Staat stellt es die wohl bedeutendste Gedenkstätte des Holocausts und der Opfer des Nationalsozialismus dar. Somit ist es für uns sowohl als Deutsche als auch als Jusos selbstverständlich, diesen Ort zu besuchen und uns erneut mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.
Die Erinnerungsstätte liegt etwas außerhalb des Zentrums, ist mit der Straßenbahn jedoch leicht zu erreichen. Vor Ort angekommen, statteten wir uns mit Audio Guides aus und hatten circa drei Stunden Zeit uns umzusehen. Es gab hier unterschiedliche Spezial- bzw. Wanderausstellungen, wir konzentrierten uns jedoch auf die Dauerausstellung zur Geschichte der Shoa.

Die Ausstellung beginnt mit einer Videoaufzeichnung, die darstellt, wie jüdisches Leben in Europa vor der Verfolgung ausgesehen hat. Man blickt in fröhliche Gesichter, sieht tanzende Menschen und bekommt den Eindruck eines ausgelassenen freien Lebens. Anschließend geht man vorbei an Glasvitrinen, die persönliche Gegenstände und Hinterlassenschaften von Menschen enthalten, die durch ein Schießkommando der Nazis gestorben waren. Anhand der persönlichen Gegenstände wurden jene Personen, die so grausam ermordet wurden, erkannt und ihnen wurde somit ihre Identität zurückgegeben, die ihnen durch schrecklichste Weise von den Nazis genommen worden war.

Der anschließende Abschnitt der Ausstellung stellt einen enormen Kontrast zum vorher genannten dar. Man betritt einen Raum ausgestattet mit roten Nazi-Flaggen und Schildern, die an die schamlose Nazi-Rhetorik erinnern. Weiterhin kann man Tonaufnahmen von einer Hitler-Rede hören und sehen, wie er vor einer großen Menschenmenge in einem Stadion spricht.

Es wird deutlich, dass jüdisches Leben in Deutschland zunehmend von Diskriminierung und Demütigung geprägt war und letztendlich unmöglich gemacht wurde. Juden und Jüdinnen schildern Erlebnisse der anfänglichen Fassungslosigkeit bis hin zur nüchternen Erkenntnis, dass ihnen in Deutschland keine Zukunft mehr bleibt.

In den folgenden Räumen wurden die Anfänge des Zweiten Weltkrieges markiert, und damit auch die Ausweitung des Holocausts auf das europäische Ausland. Gezeigt werden sowohl schriftliche, als auch künstlerische und fotografische Eindrücke der Konzentrations- und Arbeitslager.

Unterstrichen durch die Arbeitskleidung aus den Lagern und den Schuhen der Menschen, die ihr Leben in Konzentrationslagern ließen, gingen einem diese Eindrücke, besonders nahe.

Historisch zeichnet sich die Linie zum durch die Wannseekonferenz beschlossenen Massenmord weiter sowie die darauffolgende sogenannte Endlösung. Hierzu gibt es in der gesamten Ausstellung Boxen an der Wand, an denen die Täterprofile der beteiligten Nationalsozialist*innen aufgezeigt waren. Dem gegenübergestellt kann man an jeder der Stationen Erlebnisberichte von Überlebenden sehen.

Eine der größten Stationen handelt von den Deportationen, aber auch vom jüdischen Widerstand in den Gettos. Besonders hervorgehoben wurde hier das Warschauer Ghetto, dem ein ganzer Raum gewidmet war. In diesem befand sich z.B. die Nachbildung einer Straße, samt den Zugschienen, wie es sie dort einst gab. Hier wurde gezeigt, wie sich das alltägliche Leben im Ghetto gestaltete. Man sah Bilder und Aufnahmen vom Elend, das dort herrschte, hervorgerufen dadurch, dass viel zu viele Menschen auf zu engem Raum zusammenleben mussten und kaum das Nötigste zum Leben hatten.

Andererseits wurde jedoch auch ein ganz besonders wichtiger Aspekt des Lebens in Ghetto betont: Der starke Überlebenswille der Juden und Jüdinnen. Dieser fand seinen Ausdruck und Höhepunkt in dem Aufstand, der jüdischen Frauen und Männer, die sich trotz unterlegener Waffenausrüstung einen fast einmonatigen erbitterten Kampf mit den deutschen Truppen lieferten.

Im weiteren Verlauf der Ausstellung werden folglich unterschiedlichste Formen des jüdischen Widerstandes und Rettungsversuche verschiedener Akteur*innen aufgezeigt, um schließlich zum Ende hin die Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten und die Todesmärsche, die im Vorfeld dessen von Statten gingen, zu betonen.

Die letzten Stationen erzählen von der Staatsgründung Israels als Blick in die Zukunft. Symbolisch hierfür steht die Aussichtsplattform, auf die man tritt, wenn man die Ausstellung verlässt und von der man einen eindrucksvollen Blick auf die Landschaft Jerusalems hat.

Nachdem sich wieder alle am Treffpunkt gesammelt hatten, fuhren wir gemeinsam zum Willy-Brandt-Center um das Erlebte zu reflektieren. Unsere Reflektion war in drei Teile aufgeteilt. Zunächst hatten wir Zeit über folgende Fragen nachzudenken: „Wie habe ich mich gefühlt?“ und „Inwiefern hat mich Geschichte in Bezug auf mein (politisches) Leben beeinflusst?“. Anschließend fanden wir uns in Zweiergruppen zusammen, um darüber zu sprechen, danach wurde das Ganze im Plenum diskutiert.

Dabei wurden vor allem folgende Eindrücke deutlich:

Vielen von uns fiel es schwer, sich als Deutsche*r durch diese Ausstellung zu bewegen. Viele empfanden erneut große Scham für das, was im Zuge des Nationalsozialismus geschehen ist und weigerten sich, sich an diesem Tag in der Ausstelung auf Deutsch zu verständigen, und sprachen aus Respekt vor den Opfern vorzugsweise Englisch.

Einem großen Teil der Gruppe fiel der Unterschied zur Strukturierung der Ausstellung in Israel im Vergleich zu Ausstellungen in Deutschland auf. Während uns deutsche Ausstellungen mit der Botschaft eines „Nie wieder“ zurücklassen, mündet die Ausstellung in Yad Vashem in der Staatsgründung Israels, die für viele Verfolgte endlich zu einem Zufluchtsort und einer Heimstätte wurde, zu dem einzigen Ort auf der Welt, an dem Jüdinnen und Juden keine Demütigung und Verfolgung befürchten müssen.

Viele Teilnehmer*innen reflektierten auch über die Rolle der eigenen Familie während des deutschen Nationalsozialismus. Anlass war vor allem eine Teilnehmerin, die in Yad Vashem auf den Namen eines Großonkels stieß, der bei der SS war und für grausame Verbrechen mit verantwortlich war. Wir sprachen über Großväter, die in die Verbrechen verstrickt waren oder bis heute von nichts gewusst haben wollen und von Angehörigen, die selbst versuchten, Widerstand zu leisten.

Außerdem wird deutlich, dass egal wie viele Ausstellungen und Veranstaltung man zum Thema der Shoa auch besucht, man immer wieder erneut emotional sehr ergriffen ist und man am Ende immer mit einer Botschaft für sich selbst nachhause geht. Und auch hierin liegt ein essentieller Punkt: Man wird immer wieder erneut daran erinnert, dass Friede nicht selbstverständlich ist. Gerade der Anfang der Ausstellung, bei der das ausgelassene Leben der jüdischen Bevölkerung vor deren Verfolgung durch den Holocaust zu sehen ist, macht einem dieses Gefühl noch einmal deutlich.

In Zeiten, in denen ein Björn Höcke öffentlich das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande bezeichnet“, ist es wichtiger denn je Erinnerungskultur am Leben zu erhalten, Menschen über die damaligen Verbrechen aufzuklären und sich dafür einzusetzen, dass derartiges nie wieder passiert.

 

Im zweiten Teil berichten wir über die geteilte Stadt Hebron und das Wasserproblem im Nahen Osten.

Hier ist der 2. und der 3. Teil des Berichts zu finden.

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