20. Oktober 2013 – der SPD-Parteikonvent tagt im Willy-Brandt-Haus in Berlin, um über die Frage zu entscheiden, ob die SPD in Koalitionsverhandlungen mit der Union einsteigen soll. Ich darf als eine von 3 Thüringer Delegierten daran teilnehmen. Viele Genossinnen und Genossen hatten mir Ratschläge und Zitate berühmter Sozialdemokrat_innen mit auf den Weg gegeben: „Es hat keinen Zweck, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“ (Willy Brandt) „Ohne Mindestlohn und Ost-West-Rentenangleichung geht gar nichts.“ „Ihr müsst für die doppelte Staatsbürgerschaft kämpfen. Ich will mich nicht entscheiden müssen.“ „Mit den Arschlöchern von der CDU koaliere ich nicht.“ (Regine Hildebrandt)
Im Willy-Brandt-Haus angekommen bin ich erst mal neben diversen Vorbesprechungen damit beschäftigt, mir von Spiegelonline erzählen zu lassen, worüber ich bald abstimmen werde – als Delegierte werde ich das Papier erst nach Konventsbeginn zu Gesicht bekommen.
Nachdem der Konvent mit gut einer Stunde Verspätung beginnt (in Parteivorstand und Antragskommission gab es wohl mehr zu diskutieren als gedacht), erlebe ich die Debatte als sehr ambivalent. Die Redebeiträge spiegeln das gesamte Spektrum der Argumente wider und ich befinde mich immer wieder in Situationen, in denen ich meine eigene Haltung noch mal und noch mal überdenke. An der Debattenkultur habe ich einiges auszusetzen: erst beantragt ein Genosse, die Redezeit auf 90 Sekunden zu begrenzen und findet breite Zustimmung. Irgendwann wird die Debatte unterbrochen und zur Abstimmung übergangen, obwohl sich noch fast 30 Leute gemeldet hatten, unter anderem auch ich. Nur damit man pünktlich 16 Uhr fertig wird, dabei hatten wir ja später begonnen.
Es gibt aber auch immer wieder Genoss_innen, die mir aus dem Herzen sprechen und mich in meiner Prioritätensetzung bestärken. Am Applaus für diese Redebeiträge kann ich aber ablesen, dass dies keine Mehrheitsmeinung ist.
Ich habe letztendlich gegen den Vorschlag des Parteivorstandes gestimmt, der vorsieht, mit der Union Koalitionsverhandlungen aufzunehmen und einige Punkte als Mindestanforderungen benennt.
Neben mir haben von den 229 stimmberechtigen Mitgliedern noch 30 andere Genoss_innen mit „Nein“ gestimmt.
Die Punkte im Papier des Parteivorstands sind meiner Meinung nach richtig und unterstützenswert, aber oft nur sehr vage formuliert, viele enorm wichtige Forderungen fehlen: die konsequente Abschaffung des Betreuungsgelds, das Adoptionsrecht für Homosexuelle, die Bürgerversicherung und damit die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin, der gesamte Komplex Jugendpolitik, konkrete Vorschläge für eine antirassistische Flüchtlings- und Asylpolitik und ein echter Kurswechsel in puncto Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit. Wenn man diese und viele weitere Veränderungen mit der CDU/CSU nicht umsetzen kann, dann zeigt das, dass mit der Union progressive Politik nicht möglich ist.
Die Mehrheit der Delegierten hat das anders gesehen – das ist Demokratie. Aber vor allem werden wir bald einen ganz anderen demokratischen Prozess erleben, der auch für die SPD einmalig ist:
Sobald ein Koalitionsvertrag steht, gibt es einen Mitgliederentscheid. Dort bin ich, seid ihr, sind 470000 SPD-Mitglieder aufgefordert abzustimmen. Das ist eine außergewöhnliche Chance für jede_n Einzlene_n, für die eigene Überzeugung (und noch schnell in die SPD) einzutreten, zu debattieren, zu streiten, zu überzeugen und sich überzeugen zu lassen.
Ich werde auch beim Mitgliederentscheid gegen eine Große Koalition votieren. Selbst wenn der flächendeckende, gesetzliche Mindestlohn drinsteht? Selbst wenn die CDU/CSU bei der doppelten Staatsbürgerschaft einlenkt?
Ja, auch dann!
Ja, auch ich glaube, dass es für die vielen Geringverdiener_innen besser ist, wenn der Mindestlohn kommt, als wenn er nicht kommt. Aber ich bin irgendwann mal in die SPD eingetreten, um die Welt zu verändern. Dafür habe ich den ganzen Sommer lang Wahlkampf gemacht. Nicht um von der Union mit ein paar Krümeln abgespeist zu werden oder damit es mir als Erfolg verkauft wird, wenn wir ein ganzes Kuchenstück bekommen. Es geht immer noch um die ganze Bäckerei!
Frau Merkel fehlen im Parlament eine Handvoll Sitze. Warum sollte eine Minderheitsregierung nicht funktionieren? Bei Eurorettung und Co. wird sie schon einige andere Abgeordnete finden, die mit ihr stimmen.
Währenddessen sollte die SPD in die Opposition gehen und diese Rolle nutzen, um trotz aller Differenzen für eine gesellschaftliche Veränderung zu kämpfen: mit Verbänden und NGOs, mit den Gewerkschaften, auf der Straße, in den Unis und Betrieben, und im Parlament – mit Grünen und Linkspartei.
Ich will, dass wir irgendwann mal gesellschaftliche Mehrheiten für echte sozialdemokratische und jungsozialistische Politik haben, dass wir den Arbeitsmarkt, die Wirtschaft, das Bildungssystem, die Gesellschaft verändern! Das geht meiner Meinung nicht mit der Union. Das geht nur, wenn wir glaubwürdig für diese Veränderungen eintreten. Das geht dann vielleicht schon in vier Jahren.
Seht dieses Statement als Diskussionsbeitrag, nicht als Maßstab. Bildet euch eure eigene Meinung. Aber diskutiert – bei den Jusos und SPD-Ortsverein! Streitet euch! Aber bringt euch ein und kämpft für eine bessere, gerechte Gesellschaft!
Mit sozialistischen Grüßen,
eure Saskia
Danke für diesen Beitrag, dem ich nichts hinzufügen könnte, außer das Zitat von Willy Brandt noch mal doppelt zu unterstreichen!
LG
Petra